«Bewerbung mit Titelblatt? Weisst du, was das kostet?!»

Sein ganzes Berufsleben lang steht Hansjörg Lutz (63) schon im Klassenzimmer, seit 2001 unterrichtet er an der Berufswahlschule Bülach. Hunderte Jugendliche hat Lutz in dieser Zeit ins Berufsleben begleitet. Mit BiZZU konkret spricht er darüber, wie sich die Herausforderungen am Übergang zwischen Schule und Berufswelt verändert haben.

Die Lage am Lehrstellenmarkt ist derzeit entspannt: Jedes Jahr bleiben im Kanton Zürich etliche Lehrstellen unbesetzt, es gibt mehr Ausbildungsplätze als Lernende. Braucht es da die Berufswahlschule noch?

Man muss diese Statistik hinterfragen: In der täglichen Arbeit spüre ich nicht, dass es zu viele Lehrstellen gibt. Im Gegenteil: Häufig ist von den Unternehmen wenig Interesse da, Lehrstellen überhaupt zu besetzen. Ich glaube schon, dass viele Lehrstellen offiziell frei sind, glaube aber nicht, dass alle besetzt werden wollen. Betriebe lassen eine Stelle lieber unbesetzt als einem etwas schwächeren Lernenden eine Chance zu geben, der nicht hundertprozentig ins Anforderungsprofil passt. Für diese Lernenden braucht es die BWS, genauso wie für jene, die sich in ihrer Berufswahl noch unsicher oder damit überfordert sind. Die Mehrzahl unserer Lernenden sind wirklich gute und motivierte junge Leute, die einfach etwas mehr Zeit brauchen. Das kostet zwar Nerven, Geduld und Geld, ist aber unausweichlich, wenn wir für die Jugendlichen eine nachhaltige Anschlusslösung suchen.

Früher reichte ein Anruf des Vaters, um eine Lehrstelle einzufädeln. Heute veranstalten Lehrbetriebe umfangreiche Selektionsverfahren. War die Lehrstellensuche früher generell einfacher?

Gerade in den 70er-Jahren gab es tatsächlich sehr viele freie Lehrstellen. Da hat der Verantwortliche eines Elektronikfachhändlers auch schon einmal bei mir an die Klassenzimmertüre geklopft und gefragt, ob ich ihm einen Lehrling hätte. Und ein Kaminfeger versprach mir ein gutes Nachtessen, wenn ich ihm einen Lernenden vermitteln würde. Es war damals aber auch so, dass die Jugendlichen wussten, wohin sie gehören: Aus der Sek ging man ins KV, aus der Real und der Oberschule ins Handwerk und in den Verkauf. Die Berufswünsche waren realistischer, auch seitens der Eltern. Heute gibt es eine komische Durchmischung, selbst Sek C-Schüler wollen ins KV. Das Gespür für die eigenen Fähigkeiten und Leistungen fehlt. Irgendwer hat den Jugendlichen den Traum eingepflanzt, dass man alles erreichen kann, auch aus der Sek C – «You can get it if you really want». Nur geht das eben nicht immer und schon gar nicht sofort. An der BWS müssen wir diese Träume dann runterbrechen, den Jugendlichen beibringen, dass das nicht passt. Träume, die über Jahre aufgebaut wurden, müssen relativiert werden. Das ist sehr schwierig.

Das tönt ganz so, als seien die schulischen Leistungen zum alleinigen Selektionskriterium geworden?

Heute entscheiden oftmals nur noch die Fakten: Multicheck, Stellwerk, Noten, teilweise die Nationalität – und dann ist schon fertig. Ich habe oft das Gefühl, wenn die Betriebe wüssten, wie die Lernenden wirklich sind, dann würden sie sich anders entscheiden, auch etwas schwächeren Lernenden eine Chance geben. Aber Betriebe holen heute fast keine Referenzauskünfte mehr ein. Als ich an der BWS angefangen habe, da hat praktisch jeder Lehrbetrieb angerufen, es gab einen regen Austausch. Heute fehlt dieser Kontakt weitestgehend.

Bewerben, bewerben, bewerben. Das Bewerbungsdossier bildet heute den ersten und oft einzigen Eindruck eines Bewerbers. Kommt das auch in der Arbeit am Dossier zum Ausdruck?

Früher gab es im Deutschbuch einen Musterbewerbungsbrief, den haben alle abgeschrieben. Da kannte man nichts anderes. Bevor ich 2001 meine Arbeit an der BWS aufnahm, fragte ich deshalb einen Berufsberater, wie eine gute Bewerbung auszusehen hätte. Er meinte: Titelblatt, persönliches Anschreiben, Lebenslauf, die sogenannte Dritte Seite, Beilagen. Ich machte das dann so und wurde vom damaligen Chef prompt darauf angesprochen: So viele Seiten. Ob ich wisse, was das koste. Das sei zu ausführlich, das lese kein Mensch. Das war vor fünfzehn Jahren. Und heute? Heute ist ein Bewerbungsdossier ohne Titelblatt und Motivationsschreiben undenkbar (lacht).

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